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Die drei “R” der Zivilisation: Respekt,
Rücksichtnahme, Redlichkeit

“Es gibt kein richtiges Leben im falschen”(Theodor. W. Adorno)

Die schon seit einigen Jahren in einem deutschen Altersheim arbeitende türkische Frau, war eines Tages als sie nach Hause kam, müder und erschöpfter als sonst. Ihr Ehemann fragte sie, aus welchem Grund sie so verträumt auf dem Sessel saß. Als sie anfing von ihrer Begegnung auf der Arbeit zu erzählen, hatte sie ihre Gefühle nicht mehr unter Kontrolle; dabei weinte und erzählte sie:

In der Etage, auf der ich tätig bin, brachten sie heute eine türkische Großmutti hin. Ich fragte sie, ob sie niemanden habe. Ihr Ehemann sei verstorben, jedoch habe sie eine vermählte Tochter und einen Sohn, antwortete sie. Bevor ich überhaupt mitentscheiden konnte, haben sie sich eine Weile mit mir beschäftigt, daraufhin brachten sie mich mit der Begründung, dass sie wegen ihrer Arbeit für mich nicht mehr Sorge tragen könnten, hierher. Die vielen, zur Ausgabe stehenden, Speisen kann die arme Frau nicht essen. Laut ihrer Erzählung habe sie genau 30 Jahre in einer Fabrik gearbeitet. Jedesmal wenn ich ihr Zimmer betrete, sehe ich wie sie aus dem Fenster starrt und schluchzend vor sich hin weint. Zu den Deutschen sagte ich immer, dass wir Türken unsere älteren Menschen bis zu ihrem Tode zu Hause pflegen und sie auf Händen tragen würden. Wenn ich nun den Zustand der alten Frau sehe, frage und fürchte ich mich, ob dies auch unser Schicksal sein wird.

Die junge Mutter von zwei Kindern versuchte am Telefon einerseits zu erklären, in welcher Lage sie sich befand, andererseits wiederholte sie mir gegenüber immer wieder die gleiche Frage: “Meine Kinder nehmen sie mir nicht weg, oder? Bitte, helfen Sie mir... Ich habe eine sehr große Angst davor, dass das Jugendamt mir meine Kinder wegnimmt.” Ich fragte nach ihrem Mann; wegen seiner Drogenabhängigkeit hätten sie sich getrennt. Nun müsse sie arbeiten und ihre zwei Kinder, die den Kindergarten besuchen, alleine großziehen, erklärte sie.

Dem Vorsitzenden der Moschee wurde eine Nachricht überbracht: Im Krankenhaus sei ein Moslem verstorben. Dieser habe niemanden, der die Kosten der Beerdigung und der Bestattung tragen könne. Daher soll sein Leichnam verbrannt werden. Die Anwesenden fragten den Vorsitzenden: “Ist er ein Türke?” Bevor der Vorsitzende sich zu Wort melden konnte, sagte der Imam, das was gesagt werden musste: “Mein verehrter Freund, muss ein verstorbener Moslem, dessen Leiche verbrannt werden soll, unbedingt ein Türke sein, um ihn davor zu behüten? Genügt der Umstand nicht schon, dass er ein Moslem ist?”

Die drei oben genannten unterschiedlichen Begebenheiten sind tatsächliche Geschehnisse aus dem täglichen Leben; ich möchte damit zum Ausdruck bringen, dass diese nicht fiktiv sind. Auch die Unwissenden, die ihre Augen und Ohren verschließen und fortwährend so weiter leben, müssen wissen, dass sie eines Tages mit dieser oder einer ähnlichen Realität konfrontiert werden!

Die in Europa lebenden türkischen Immigranten, erleben nicht nur wie schon beschrieben, alltägliche Missstände. Sie glauben zudem durch die Eröffnung von Geschäften und Moscheen ihre Werte wahren zu können.

Wenn die Jugendlichen von gestern älter werden, die Kinder von gestern heranwachsen und die Ledigen von gestern heiraten und eine Familie gründen; so verwischen allmählich die Eckpfeiler unserer Kultur und diese tragenden Säulen und Stützmauern lassen Risse erkennen, die eine gefährliche Gestalt annehmen. Mit jedem vergangenen Jahr verspüren wir immer mehr unsere eigenen Schwächen; verdrängt von Werten, die einem anderen kulturellen Millieu entstammen. Jedoch bilden gerade die Wertmaßstäbe unserer eigenen Zivilisation, gekennzeichnet durch Treue im Eheleben, den respektvollen Umgang mit älteren Menschen, so wie der selbstverständlich erbrachten Sorge- und Hilfeleistung für sowohl Bedürftige ohne Angehörige, als auch für, auf Schutz angewiesene Senioren und Kinder, anspruchsvolle Teile des Zivilisationsprojektes, die für die postmoderne Menschheit bestimmt waren.

Obwohl diese, die gemeinsamen Werte der Menschheit bilden, ist zugleich unsere Zivilisation von Werten geprägt, die sich durch abweichende Merkmale charakterisieren lassen. Weiterhin besteht in der prowestlich orientierten Gesellschaft ein Mangel an bestimmten Werten wie Respekt, Rücksichtnahme und Redlichkeit. Aus diesem Grund hat sich die Nachfrage und das Bestreben nach diesen gesellschaftlichen Normen gesteigert. Die nach Deutschland und in ähnlich industrialisierte europäische Staaten immigrierten Gastarbeiter, dessen Dritte und die, darüber hinaus gehenden Generationen erwarten - in besonderer Weise - eine andere europäische Wirklichkeit. Die neuen Generationen der türkischen Emigranten werden unterschiedlichere Erwartungen haben, als die ihrer Väter; dies hat schon begonnen...

Die der “Gastrolle” schon lange nicht mehr entsprechenden Türken, die sich entschieden haben hier sesshaft zu werden, sollten im Rahmen eines gemeinsamen Projektes den Reichtum des kulturellen Erbes, den sie übernommen haben, zur Verfügung stellen und weitergeben. Jedoch muss die Umsetzung zunächst einmal im privaten, familiären und gesellschaftlichen Bereich erfolgen.

Gegenwärtige Gesellschaften, die einen westlichen Lebensstil angenommen haben, haben entweder einen völligen Werteverlust oder einen Rückgang gesellschaftlicher Attribute wie “Respekt”, “Rücksichtnahme” und “Redlichkeit” zu verzeichnen. Diese Grundzüge erhalten wir in unserer Kultur noch am Leben. Der westliche Mensch wird fortan als Objekt behandelt und die Wirklichkeit des Todes wird verdrängt, wie auch aus dem kollektiven Leben verbannt. Mithin bemerkt Jean Ziegler: ”Um Platz zu gewinnen, zieht es die Warengesellschaft auch vor, die Toten zu verbrennen.“ (Jean Ziegler, Die Lebenden und der Tod)

Im Gegensatz dazu, bestatten wir unsere Toten im Kollektiv und nach Möglichkeit verabschieden und begleiten wir sie auf ihrem letzten Weg. Unsere Lebenseinstellung hat, das Bewusstsein in der jetzigen Welt zu leben und an die Existenz eines “Leben nach dem Tod” zu trachten, zum Inhalt. Allerdings sollten die in den fortgeschrittenen Industrieländern westlich und nördlich Europas lebenden Türken nicht ignorieren, dass im globalen Zeitalter der Konsumgesellschaft die dominierenden Werte ihrer Gesellschaft erdrückt werden.Wenn sie, die ihnen zur Verfügung stehenden kulturellen Vorteile nicht nutzen, einem jeden Vorstoß von Außen, nicht mit einem Schritt zurück aus dem Graben zu treten, entgegensetzen, wie auch in der Gesellschaft, in der sie leben, nichts der Gemeinschaft weiter geben können, werden die europäischen Türken ihre eigenen Werte nicht schützen können.

Der Individualismus gerät durch den Zerfall der Traditionen in einer Gesellschaft immer mehr in den Vordergrund. Oder wie A. Ehrenberg in seinem Werk “Das Unbehagen in der Gesellschaft” schreibt: “Der Aufstieg des Individualismus ist gleich der Niedergang der Gesellschaft.”

Der Individualismus ist heutzutage an einem Punkt angelangt, den man auch als Narzissmus bezeichnen kann. In den Gesellschaften, in denen der Narzissmus stark ausgeprägt ist, führt dieser zu psychologischen Problemen. Folglich kann die Selbstsucht schon mal ein Grund dafür sein, dass der Familienzusammenhalt zerbricht. Auch, wenn der Wunsch eines intakten Familienlebens besteht, scheitert es schon an der Gründung einer Familie. So wie Alain Ehrenberg mal sagte: “Die gesellschaftliche Bindung wird schwächer, und als Folge davon muss sich der einzelne immer mehr auf sich selbst stützen, auf seine persönlichen Fähigkeiten, seine Subjektivität, seine Innerlichkeit.“Der deutsche Wissenschaftler und zugleich Experte in seinem Fachgebiet, Prof. Meyer-Abich, stellt fest, dass zwischenmenschliche Beziehungen eine Notwendigkeit sind: ”Wahrscheinlich sterben viel mehr Menschen an Einsamkeit als an dem Krebs, der schließlich dazukommt.“ (Prof. Klaus M. Meyer-Abich, Psychologie Heute, Sept. 2010)

Das Zugehörigkeitsgefühl bedeutet, sich mit einer Gesellschaft, einem Kulturkreis oder einer Nation identifizieren zu können. Das Zugehörigkeitsempfinden eines alleingelassenen oder eines zum Alleinsein gezwungenen Menschen, ist vergleichbar mit einer unerwiderten Liebe.

Wie bedeutend kann schon das Zugehörigkeitsgefühl eines alten Menschen, der von seinen Kindern dem Altenheim ausgeliefert wird, eines Kindes, das trotz Eltern in die Arme der Gleichgültigkeit ausgesetzt wird und eines sich scheidenden Ehepaars, zu Jemandem oder Irgendwohin sein? Die oben genannten Beispiele aus dem sozialen Leben wirken zwar auf den ersten Blick unterschiedlich, gehen jedoch ineinander über und reflektieren sogar voneinander abhängige Ereignisse. Die Kindheit, das Eheleben und das Altwerden des Menschen gehören zu den familiären und sozialen Etappen, die das menschliche Leben vervollständigen. Das, mit Güte und Zärtlichkeit in Schutz nehmen des sowohl eigenen, als auch des hilfsbedürftigen Kindes, der respektvolle Umgang mit älteren Menschen und die Treue im Eheleben, sind bedeutende Grundsätze unserer Zivilisationsauffassung und repräsentieren möglicherweise jenen kulturellen Unterschied. Die Erosion dieser Werte zeigt sich im Moment noch im Verlauf von Ausnahmesituationen, die sich jedoch mit der Zeit vervielfachen und sich zu einem gefährlichen Zustand entwickeln könnten.

Wehe denen, die in einer, das kollektive Leben unmöglich machenden und vom Individualismus geprägten Welt, Werte, wie Treue, Rücksicht und Fürsorge nicht als Zivilisationsprojekt vorlegen können.


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